– Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland

 

 

Der Teso-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts
RainerHofmann*
A. Einleitung

 

Mit Beschluß vom 21. Oktober 1987 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, daß dem Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen ihres ordre public die Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes beizumessen ist. Dies gilt auch in den Fällen, in denen der Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik nach dortigen Vorschriften erfolgt ist, denen eine Entsprechung im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 (RuStAG) fehlt. Mit diesem im Schrifttum der Bundesrepublik Deutschland stark beachteten Beschluß
hat der Zweite Senat aber nicht allein eine spezielle Problematik des Staatsangehörigkeitsrechts verbindlich gelöst; vielmehr enthält die Entscheidung auch grundsätzliche Ausführungen zur Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland und darüber hinaus zum rechtlichen Verhältnis zwischen Deutschem Reich, Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik. In mehrfacher Hinsicht erscheint sie daher als eine – notwendige – Ergänzung und Fortschreibung des Urteils zum Grundlagenvertrag vom 31.Juli 19733 und kann wohl als Formulierung der grundsätzlichen Konzeption des Gerichts zur Rechtslage Deutschlands und damit zusammenhängenden Fragen gesehen werden. Dies gilt vor allem für die Aussagen zur verfassungsrechtlichen Qualität des Wiedervereinigungsgebots und seines Inhalts sowie für die starke Betonung des im Völkerrecht verankerten Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes als essentiellen Faktoren rechtlichen und politischen Handelns in Fragen, die Deutschland als Ganzes betreffen oder in grundlegender Weise betreffen können. Es liegt auf der Hand, daß sich aus einer solchen Entscheidung Folgerungen über den Bereich des eigentlichen
Staatsangehörigkeitsrechts hinaus auf verfassungs- und völkerrechtliche Probleme der Rechtslage Deutschlands ergeben; angesichts der fortschreitenden Integration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften könnte etwa die schon seit einiger Zeit diskutierte Frage der Vereinbarkeit von Westintegration und Wiedervereinigungsgebot im Lichte der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts neuerlich zu erörtern sein.

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B. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts
1. Sachverhalt und Prozeßgeschichte

Der Beschwerdeführer, Marco Teso, wurde 1940 in Meißen/Sachsen ehelich geboren. Sein Vater war italienischer Staatsangehöriger; seine Mutter hatte ihre deutsche Staatsangehörigkeit aufgrund der damals geltenden Bestimmungen des RuStAG mit der Eheschließung verloren, erwarb sie aber nach Ehescheidung durch Einbürgerung, die sich nicht auf den Beschwerdeführer erstreckte, im Jahre 1944 zurück. Der Beschwerdeführer wuchs bei seiner Mutter in Sachsen auf. Nach Vollendung des 14. Lebensjahres erhielt er im Jahre 1954 einen Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik für deutsche Staatsangehörige, nachdem er schon 1948 in den Personalausweis seiner Mutter eingetragen worden war; später erhielt er dann einen Wehrpaß der Nationalen Volksarmee und endlich einen neuen Personalausweis der Deutschen Demokratischen Republik.
Im Jahre 1967 wandte sich der Beschwerdeführer an das italienische Generalkonsulat in Berlin (West), das ihm nach Feststellung seiner italienischen Staatsangehörigkeit einen italienischen Reisepaß erteilte. Mit diesem Reisepaß gelangte er 1969 in die Bundesrepublik Deutschland und erhielt hier 1970 einen Personalausweis.
In einem Verwaltungsverfahren auf Feststellung von Vermögensschäden nach dem Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz entschied die zuständige Behörde im Jahre 1974, daß der Beschwerdeführer weder deutscher Staatsangehöriger noch Deutscher ohne deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Art. 116 Abs.1 GG sei. Das Verwaltungsgericht wies die Klage auf Erteilung eines Staatsangehörigkeitsausweises mit Urteil vom 4. Februar 1976 ab. Auf Berufung änderte das Oberverwaltungsgericht Münster das erstinstanzliche Urteil ab und verpflichtete in seiner Entscheidung vom 5. September 1978 die zuständige Behörde, dem Beschwerdeführer einen Staatsangehörigkeitsausweis auszustellen. In der Revision stellte das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 30. November 1982 das erstinstanzliche Urteil wieder her.

 

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zerfällt in zwei deutlich voneinander unterschiedene Teile: Im ersten Abschnitt wird untersucht, ob aus dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland folgt, daß der Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik auch aufgrund einer Bestimmung, die im RuStAG keine Entsprechung findet, zugleich für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne der Art.16 Abs.1, 116 Abs.1 GG bewirkt und ob insoweit gegebenenfalls verfassungsrechtliche Grenzen zu beachten sind. Diese Frage wird vom Gericht grundsätzlich bejaht; die entscheidende Norm wird im Gebot der Wahrung der Einheit der deutschen Staatsangehörigkeit gesehen, das wiederum eine normative Konkretisierung des im Grundgesetz, nämlich seiner Präambel, verankerten Wiedervereinigungsgebots ist. Die grundsätzliche Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik unterliegt allerdings den Grenzen des ordre public der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland.
In einem Zweiten, wesentlich umfangreicheren Abschnitt wird dann dieses auf der Grundlage des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland gewonnene Ergebnis daraufhin überprüft, ob ihm Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus allgemeinem Völkerrecht oder aus ihren vertraglichen Bindungen zur Deutschen Demokratischen Republik entgegenstehen. Dabei macht das Gericht grundsätzliche Ausführungen zur Rechtslage Deutschlands, der rechtlichen Bedeutung des im Völkerrecht verankerten Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes und zur Wirkung des Grundlagenvertrags auf die rechtlichen Beziehungen zwischen Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik, aber auch zum Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte von Beurteilungen völkerrechtlicher Sachverhalte durch die zur Ausübung der auswärtigen Gewalt zuständigen Staatsorgane. Auf diese Erwägungen stützt der Senat seinen Schluß, daß der verfassungsrechtlich gebotenen rechtlichen Behandlung eines Erwerbs der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik als des – in den Grenzen des ordre publicgleichzeitigen Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland bindende Normen weder aus Völkerrecht noch aus ihren rechtlichen Beziehungen zur Deutschen Demokratischen Republik entgegenstehen.

 

1. Die verfassungsrechtliche Prüfung

Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Ausführungen des Gerichts ist die Feststellung, daß der Beschwerdeführer weder durch Einbürgerung noch unmittelbar kraft einer Bestimmung des RuStAG die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, wohl aber im Besitz der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik war. Ihr Erwerb, den auch das Oberverwaltungsgericht angenommen und das Bundesverwaltungsgericht aus revisionsrechtlichen Gründen nicht in Frage gestellt hatte, sei während des entscheidungserheblichen Zeitraums entweder unmittelbar kraft Gesetz oder kraft Einzelakt von Behörden der Deutschen Demokratischen Republik erfolgt. Hinsichtlich der einschlägigen Bestimmungen des Staatsbürgerschaftsrechts der Deutschen Demokratischen Republik hat sich das Gericht auf eine Aufzählung der nach diesen Vorschriften im vorliegenden Fall, insbesondere auch nach Auffassung des Schrifttums in der Deutschen Demokratischen Republik, möglichen Erwerbstatbestände beschränkt; angesichts der gerade hier bestehenden Unklarheiten, die sich fast notwendig aus der Entwicklung der herrschenden Auffassung in der Deutschen Demokratischen Republik zum Institut der deutschen Staatsangehörigkeit und der erst seit 1967 gesetzlich verankerten, besonderen Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik ergeben, scheint dieses Vorgehen durchaus gerechtfertigt. Entscheidungserheblich war allein die Feststellung, daß der Beschwerdeführer die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik erworben hatte.
Wichtigste Grundlage für die Auffassung des Gerichts ist seine in Einklang mit seiner früheren Rechtsprechung stehende Haltung, der Präambel des Grundgesetzes rechtliche Bedeutung zuzumessen und in ihr insbesondere ein verfassungsrechtliches Wiedervereinigungsgebot verankert zu sehen. Allerdings komme den politischen Organen ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Entscheidung zu, mit welchen politischen Mitteln und auf welchen politischen Wegen sie dieses Ziel zu erreichen oder ihm näher zu kommen suchen. Für die Abgrenzung der Befugnisse zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht wichtig ist die wiederholte Aussage, daß das Gericht einer Maßnahme des Gesetzgebers erst dann entgegentreten könne, wenn diese rechtlich oder tatsächlich einer Wiedervereinigung in Freiheit offensichtlich entgegenstehe.
Gestützt auf das Urteil zum Grundlagenvertrag weist der Senat dann darauf hin, daß aus dem Wiedervereinigungsgebot auch ein Wahrungsgebot abzuleiten sei, nämlich alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde. Dieses Wahrungsgebot, das für das Staatsangehörigkeitsrecht in Art. 116 Abs. 1, 16 Abs. 1 GG in der Verfassung selbst verankert sei, habe das Bundesverwaltungsgericht verkannt. Es beruhe auf der politischen Grundentscheidung des Verfassungsgebers, des Parlamentarischen Rates, nicht einen neuen (westdeutschen) Staat zu errichten, sondern das Grundgesetz als Reorganisation eines Teilbereiches des deutschen Staatesund somit seiner Staatsgewalt, seines Staatsgebietes und seines Staatsvolkes –
zu begreifen. Dieses Verständnis der historischen und politischen Identität der Bundesrepublik Deutschland liege dem Grundgesetz zugrunde; das Festhalten an der deutschen Staatsangehörigkeit in Art. 116 Abs. 1, 16 Abs. 1 GG und damit an der bisherigen Identität des Staatsvolkes des deutschen Staates sei normativer Ausdruck dieses Grundverständnisses.
Ausschlaggebend ist dann der Schluß des Gerichts, das Wahrungsgebot hinsichtlich des deutschen Staatsvolkes dynamisch zu sehen: Aus dem Wahrungsgebot folge namentlich die verfassungsrechtliche Pflicht, die Identität des deutschen Staatsvolkes zu erhalten; diese Pflicht sei jedoch nicht statisch auf den Kreis derjenigen Personen begrenzt, die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes deutsche Staatsangehörige waren und jene, die später aufgrund der Bestimmungen des RuStAG die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben und noch erwerben werden. Die im Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes enthaltene Wahrungspflicht gebiete es auch, die Einheit des deutschen Volkes als des Trägers des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts nach Möglichkeit zukunftgerichtet auf Dauer zu bewahren. Die – vom Senat so bezeichnete – statische Betrachtungsweise des Bundesverwaltungsgerichts stelle diese Einheit des ganzen deutschen Volkes in seinem jeweiligen Bestand als des Trägers des Selbstbestimmungsrechts grundsätzlich in Frage und laufe dem genannten Wahrungsgebot des Grundgesetzes zuwider. Mithin bewirke der Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik grundsätzlich zugleich für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes. Mit anderen Worten: Um dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in seiner staatsangehörigkeitsrechtlichen Ausprägung – nämlich dem Gebot der zukunftgerichteten Wahrung der Einheit des ganzen deutschen Volkes als des Trägers des völkerrechtlich-en Selbstbestimmungsrechts –
zu genügen, ist es verfassungsrechtlich geboten, daß für die
Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland der Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik, ungeachtet seiner Rechtsgrundlage, grundsätzlich den Erwerb auch der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes bewirkt.
Danach überwindet das Gericht unter Hinweis auf seine frühere
Rechtsprechung den Einwand, daß der genannten Rechtswirkung von Hoheitsakten der Deutschen Demokratischen Republik entgegenstehe, daß die hierbei-geübte Hoheitsgewalt nicht dem Grundgesetz unterworfen sei: Das Grundgesetz gehe einerseits vom Fortbestand des deutschen Staatsvolkes aus, berücksichtige aber auch, daß die Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich Staatsgebiet und Staatsvolk nicht ganz Deutschland umfasse. Auch nach Abschluß des Grundlagenvertrags sei die Deutsche Demokratische Republik ein anderer Teil Deutschlands, seien ihre Gerichte deutsche Gerichte. Von größter Bedeutung ist dann der diese Überlegungen abschließende Satz, daß erst dann, wenn eine Trennung der Deutschen Demokratischen Republik von Deutschland durch eine freie
Ausübung des Selbstbestimmungsrechts besiegelt wäre, sich die in der Deutschen Demokratischen Republik ausgeübte Hoheitsgewalt aus der Sicht des Grundgesetzes als eine von Deutschland abgelöste fremdstaatliche Gewalt qualifizieren ließe.
Das Ergebnis des Gerichts beruht letztlich auf zwei ineinander verschränkten Begründungen: Das Staatsvolk Deutschlands, das deutsche Volk, ist aus der Sicht des Grundgesetzes nicht auf die Bürger der Bundesrepublik Deutschland mit deutscher Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes beschränkt, sondern umfaßt wegen des Gebots der Wahrung der Einheit des deutschen Staatsvolkes grundsätzlich auch alle Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik als eines anderen Teiles Deutschlands. Solange ferner eine Trennung der Deutschen Demokratischen Republik von Deutschland nicht durch eine freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eben des ganzen deutschen Volkes besiegelt ist, läßt sich die in der Deutschen Demokratischen Republik ausgeübte Hoheitsgewalt –
jedenfalls aus der Sicht des Grundgesetzes und auf die allein kommt es für die hier anstehende verfassungsrechtliche Prüfung an – nicht als eine von Deutschland abgelöste fremdstaatliche Gewalt qualifizieren.
Die Organe der Bundesrepublik Deutschland sind also von Verfassungswegen verpflichtet, für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschlanddenn nur über diese können sie verfügendem Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik grundsätzlich die  Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit beizumessen; so wird die verfassungsrechtlich gebotene Einheit des deutschen Staatsvolkes gewährleistet.
In einem letzten Schritt setzt der Senat dann der genannten Rechtswirkung eine verfassungsrechtliche Grenze: den ordre public der Bundesrepublik Deutschland. Als Stütze der Heranziehung und Geltung des ordre public der Bundesrepublik Deutschland als verfassungsrechtlicher Maßstab für eine gewisse Einschränkung der Anerkennung von Hoheitsakten der Deutschen Demokratischen Republik im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts bezieht sich der Senat auf zwei Entscheidungen aus dem Gebiet der innerdeutschen Rechtshilfe. Hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der Grenzen, die der ordre public der Bundesrepublik Deutschland dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zufolge des Erwerbs der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik setzt, beschränkt sich das Gericht in erster Linie auf die zutreffende Feststellung, daß im zu entscheidenden Fall kein Anlaß bestand, auf diese sicherlich schwierige Problematik in den Gründen des Beschlusses näher einzugehen. Immerhin findet sich der Hinweis, daß im Zusammenhang des Staatsangehörigkeitsrechts Inhalt und Wirkungsweise des ordre public sich vor allem aus den Grundwertungen dieses Rechtsbereiches und insbesondere aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes bestimmen. Wenn auch in der staatsangehörigkeitsrechtlichen Praxis im geteilten Deutschland die Fälle selten sein dürften, in denen ein Eingreifen des ordre public der Bundesrepublik Deutschland in Frage kommt, so ist auf diese jedenfalls grundsätzlich wichtige Problematik später noch einzugehen.

 

2. Die völker- und deutschlandrechtliche Prüfung

Im zweiten, umfangreicheren Teil seines Beschlusses überprüft der Senat, ob seinem auf der Grundlage des Verfassungsrechts gefundenen und insoweit gebotenen Ergebnis Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus allgemeinem Völkerrecht oder ihren vertraglichen Bindungen mit der Deutschen Demokratischen Republik entgegenstehen. Die für eine Entscheidung eines Verfassungsgerichts in Staatsangehörigkeitsfragen auf den ersten Blick vielleicht überraschende Ausführlichkeit dieser Prüfung dürfte sich nicht zuletzt aus zwei miteinander verbundenen, verfassungs- und völkerrechtspolitischen Erwägungen erklären lassen: Dem Urteil zum Grundlagenvertrag war häufig vorgehalten worden, es habe das rechtliche Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland zu sehr aus der Sicht des bundesdeutschen Verfassungsrechts gewürdigt und dabei die völkerrechtliche Komponente vernachlässigt. Zum anderen spricht in der Tat einiges dafür, daß im Bereich der internationalen Rechtsbeziehungen, wo es im Hinblick auf die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre auf eine stete und einheitliche Praxis der zuständigen Staatsorgane ganz besonders ankommt, die von der für die Ausübung der auswärtigen Gewalt zuständigen Exekutive geführte Politik gerade auch nach außen, im völkerrechtlich relevanten Bereich, vom Bundesverfassungsgericht als einem hierzu aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Stellung in erheblichem Umfange berufenen Staatsorgans auf ihre Vereinbarkeit mit dem allgemeinen Völkerrecht und vertraglichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland überprüft wird; in den in der Praxis wohl ganz deutlich überwiegenden Fällen, in denen eine solche Prüfung zum Ergebnis führt, daß die völkerrechtlich relevante Politik nicht dem Völkerrecht widerspricht, wird eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, so sie völkerrechtlichen Qualitätsansprüchen genügt, die Beachtlichkeit der völkerrechtlich relevanten Bekundungen der für die Ausübung der auswärtigen Gewalt in erster Linie zuständigen Staatsorgane stärken. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei klargestellt, daß selbstverständlich weder eine verfassungswidrige noch eine offensichtlich völkerrechtswidrige auswärtige Politik vom Bundesverfassungsgericht mit der Begründung gebilligt werden darf, die Bundesrepublik Deutschland müsse im Völkerrechtsverkehr mit einer Stimme sprechen. Hinzuweisen ist aber schon an dieser Stelle auf einen erheblichen Unterschied in der Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts: Im Hinblick auf die Auslegung der Verfassung ist es gegenüber allen anderen Staatsorganen mit der Befugnis ausgestattet, verfassungsrechtliche Fragen abschließend und für alle bindend zu entscheiden; dies beruht nicht zuletzt darauf, daß eine nationale Rechtsordnung ein mit abschließender Entscheidungsgewalt ausgestattetes Organ benötigt. Die Besonderheit der völkerrechtlichen Ordnung, in der es bekanntlich kein alle Rechtssubjekte bindendes, übergeordnetes internationales Organ gibt, bedingt nun, daß in vielen rechtlich umstrittenen Situationen eine eindeutige Einschätzung eines völkerrechtlich beachtlichen Akts als völkerrechtswidrig oder völkerrechtsgemäß nicht zu treffen ist. Dieser Befund rechtfertigt, unter verfassungs- wie völkerrechtlichem Blickwinkel, die Auffassung des Senats, den für die Ausübung der auswärtigen Gewalt zuständigen Staatsorganen bei der Prüfung ihrer Handlungen am Völkerrecht einen weiteren Beurtellungsspielraum zuzumessen als bei der Prüfung am Verfassungsrecht.
a) Die Prüfung des aus dem Verfassungsrecht gewonnenen Ergebnisses beginnt der Senat mit der Feststellung, daß die Bestimmung des Kreises der Staatsangehörigen durch einen Staat bestimmten Grenzen unterliege, die sich aus der Existenz und der Personalhoheit anderer Staaten ergeben; insbesondere dürfe die Staatsangehörigkeit nicht an sachfremde, mit dem jeweiligen Staat nicht in hinreichender Weise verbundene Sachverhalte geknüpft werden. Diese vom Völkerrecht gesetzten und von der Bundesrepublik Deutschland daher zu beachtenden Grundsätze würden nicht verletzt, wenn die Bundesrepublik Deutschland die Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik als zum Kreis der deutschen Staatsangehörigen im Sinne des Grundgesetzes zählend betrachtet, den damit gegebenen Status aber immer erst dann aktualisiert, wenn diese in den Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland gelangen und die Aktualisierung hinnehmen oder begehren. Eine solche Anknüpfung, die das aus der Staatsangehörigkeit folgende Rechte- und Pflichtenverhältnis gegenüber den in der Deutschen Demokratischen Republik lebenden deutschen Staatsangehörigen in keiner Weise aktualisiert,. ist der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich jedenfalls nicht verwehrt. Als Begründung hierfür nennt das Gericht die Rechtslage Deutschlands, die nicht nur durch die fortbestehenden Rechte und Verantwortlichkeiten der vier Hauptsiegermächte, sondern vor allem auch durch den Umstand gekennzeichnet ist, daß dem deutschen Volk seit der Niederlage des deutschen Staates im Zweiten Weltkrieg versagt geblieben ist, in freier Selbstbestimmung über seine politische Form zu entscheiden.
aa) Die Ausführungen des Senats zur Rechtslage Deutschlands gründen sich eindeutig auf das Urteil zum Grundlagenvertrag, das jedoch in völkerrechtlicher Hinsicht klärend ergänzt wird. Danach ist der im Jahre 1871 gegründete deutsche Staat nicht untergegangen, sondern besteht fort; die Bundesrepublik Deutschland ist identisch mit dem Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich. Zur Stützung dieser sich aus dem Grundgesetz nach der verfassungsrechtlich ausschlaggebenden und bindenden Auslegung des Bundesverfassungsgerichts ergebenden Auffassung im Hinblick auf das Völkerrecht – und damit die völkerrechtliche Zulässigkeit des verfassungsrechtlich Gebotenen – führt der Senat aus, daß der im Jahre 1871 gegründete deutsche Staat weder mit der Kapitulation seiner Streitkräfte, der Auflösung der letzten Reichsregierung im Mai 194526, noch durch die Inanspruchnahme der obersten Gewalt in Bezug auf Deutschland, einschließlich der Befugnisse der deutschen Staatsgewalt, durch die vier Hauptsiegermächte am 5.Juni 1945 völkerrechtlich erloschen sei; vielmehr hätten die Vier Mächte ausdrücklich erklärt, daß die Inanspruchnahme dieser Gewalt nicht die Annektierung Deutschlands bewirke.
Auch bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949 sei dieser deutsche Staat nicht untergegangen; dies werde belegt etwa durch die Beschlüsse auf der Potsdamer Konferenz vom August 1945, die Ausübung der obersten Gewalt in bezug auf Deutschland als Ganzes in dessen auswärtigen Angelegenheiten etwa beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge oder der Wahrnehmung der Rechtsstellung Deutschlands im Rahmen von internationalen Organisationen, denen Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg beigetreten war.
bb) Am Fortbestehen des deutschen Staates habe das Inkrafttreten der Verfassungen der beiden Staaten in Deutschland im Jahre 1949 nichts geändert, da beide Vorgänge nicht einen völkerrechtlichen Tatbestand eines Staatsuntergangs erfüllten.
Weder das Grundgesetz noch die auf seiner Grundlage gebildeten Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland hätten das Inkrafttreten des Grundgesetzes als Untergang des deutschen Staates gewertet; vielmehr habe sich die Bundesrepublik Deutschland von Beginn an als mit dem Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich identisch betrachtet. An dieser Subjektsidentität habe nichts zu ändern vermocht, daß sich die gebietsbezogene Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland auf den räumlichen Anwendungsbereich des Grundgesetzes beschränke, da selbst eine endgültige Statusänderung von Teilen seines Staatsgebietes die Identität eines staatlichen Völkerrechtssubjekts nicht ändere
Diese Identität der Bundesrepublik Deutschland – in ihren gebietsbezogenen Grenzen – mit dem deutschem Staat sei auf der völkerrechtlichen Ebene auch von zahlreichen Staaten anerkannt worden. Als wichtigstes Beispiel wird genannt das Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953, aufgrund dessen die Bundesrepublik Deutschland die Verbindlichkeiten Deutschlands schuldet und nicht etwa eine Schuld- oder gar nur Haftungsübernahme für die Verbindlichkeiten eines untergegangenen Schuldners vereinbart worden sei. Auch, die Praxis der Wiederanwendung zahlreicher Vorkriegsverträge belege dies: Es handele sich nämlich um die Fortführung desselben, lediglich suspendierten Vertragsverhältnisses zwischen denselben ursprünglichen Parteien und nicht um einen Neuabschluß von Verträgen mit einem Rechtsnachfolger auf deutscher Seite, weshalb auch die Wiederanwendungserklärungen von den Staatsorganen der Bundesrepublik Deutschland nicht nach den verfassungsrechtlichen Regeln des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge, nämlich Art.59 GG, behandelt worden seien.
Anhand grundlegender Bestimmungen der am 7. Oktober 1949 in Kraft getretenen Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik zeigt der Senat, daß – zumindest damals – auch die Deutsche Demokratische Republik vom Fortbestand des deutschen Staates ausging. Dies gelte auch für die Sowjetunion, wie sich aus dem Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjet der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken vom 15.Januar 1955 über die Beendigung des Kriegszustands zwischen der Sowjetunion und Deutschland ergebe. Im gleichen Erlaß und vielen anderen völkerrechtlich beachtlichen Akten habe sich, die Sowjetunion im übrigen ihre Rechtspositionen aus dem Viermächtestatus in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin sowie in bezug auf eine Friedensregelung für Deutschland vorbehalten. Aus der New Yorker Erklärung der westlichen Hauptsiegermächte vom 18. September 1950 und insbesondere einer zugleich übermittelten, unveröffentlichten  “interprätative minute”; folge, daß auch sie vom Fortbestand des deutschen Staates ausgingen; so haben denn auch die Westmächte im Jahre 1951 den Kriegszustand mit Deutschland beendet. Ihre Rechtsauffassung, daß Deutschland als Völkerrechtssubjekt fortbestehe, habe sich in zahlreichen weiteren Vorgängen bekundet, von denen eine im Jahre 1985 abgegebene Erklärung des britischen Außenministers besondere Beachtung verdient. Auch hätten die Westmächte, gegenüber der Sowjetunion wie gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, bis in die Gegenwart an ihren Rechtspositionen in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin festgehalten.
cc) Für die Jahre nach 1949 beschränkt sich der Senat im übrigen auf die allerdings entscheidende – Feststellung, daß wie auch immer die statusrechtliche Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik seither – etwa im Hinblick auf ihren Beitritt zu den Vereinten Nationen und den Abschluß des Grundlagenvertrags – zu werten sei, dies jedenfalls völkerrechtlich nichts an der Subjektsidentität der Bundesrepublik Deutschland mit dem deutschen Staat zu ändern vermocht hätte. Selbst wenn es sich bei der von der Deutschen Demokratischen Republik durchlaufenen Entwicklung um eine vollendete völkerrechtliche Sezession aus dem deutschen Staatsverband gehandelt hätte, was allein schon wegen des fortbestehenden Viermächtestatus Deutschlands als Ganzen ausgeschlossen sei, hätte das den Fortbestand des deutschen Staates nicht beenden können: Die Sezession eines Teilgebietes beendet nicht die Subjektsidentität des verbleibenden Teils, sofern dessen Staatlichkeit – was bei der Bundesrepublik Deutschland unstreitig ist – erhalten bleibt.
Von ausschlaggebender Bedeutung ist nach Ansicht des Senats jedoch nicht der Viermächtestatus Deutschlands als Ganzen, sondern der Umstand, daß eine endgültige Spaltung Deutschlands, d. h. eine völkerrechtliche Sezession der Deutschen Demokratischen Republik, nicht vom Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes gedeckt sei. Vielmehr halte das deutsche Volk in seiner überwiegenden Mehrheit sowohl in der Bundespublik Deutschland als auch in der Deutschen Demokratischen Republik an dem Willen fest, die Spaltung Deutschlands auf friedliche Weise zu überwinden und die volle staatliche Einheit wiederherzustellen.
Das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Volkes sei nach dem Zweiten Weltkrieg als Grundsatz des universalen Völkerrechts anerkannt worden; dies bekunde sich. in zahlreichen vertraglichen Festlegungen -und Äußerungen der Staatenpraxis außerhalb vertraglicher Rahmen. Die Bundesrepublik Deutschland habe von Anbeginn an das Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes geltend gemacht, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Abschluß der sogenannten Ostverträge; sie habe auch nach Abschluß des Grundlagenvertrags mit der Deutschen Demokratischen Republik am Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes festgehalten.
Auf dieser rechtlichen und tatsächlichen Grundlage gelangt der Senat dann zum Ergebnis, daß es nach Maßgabe des Völkerrechts keine sachwidrige und damit auch keine völkerrechtswidrige Anknüpfung darstellt, wenn durch staatsangehörigkeitsrechtliche Regelungen der Bundesrepublik Deutschland die rechtliche Form und Gestalt des deutschen Volkes als Trägers des Selbstbestimmungsrechts im Sinne des allgemeinen universalen Völkerrechts bis zudem Zeitpunkt gewahrt bleiben soll, zu dem ihm die freie Ausübung dieses Rechts möglich wird. Der Senat läßt dann ausdrücklich offen, auf welche Art und Weise dieses Recht wahrzunehmen sei, um den Anforderungen an seine freie Ausübung zu genügen.
b) Nach dieser Prüfung am allgemeinen Völkerrecht wendet sich das Gericht der Frage zu, ob das verfassungsrechtlich gebotene und völkerrechtlich zulässige Ergebnis vertragliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik verletzt. Dabei kommt es zum Ergebnis, daß es weder der Protokollerklärung der Bundesrepublik Deutschland anläßlich der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags noch ihrem Brief zur deutschen Einheit widerspreche, dem Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland die Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes beizumessen. Der Deutschen Demokratischen Republik sei bei Vertragsschluß bekannt gewesen, daß das Grundgesetz an der einen deutschen Staatsangehörigkeit festgehalten habe. Aber auch ungeachtet dieser Protokollerklärung und des Briefes verletze die genannte Rechtswirkung keine Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus dem Grundlagenvertrag: Sie widerspreche nicht der nach Maßgabe des Grundlagenvertrags zu respektierenden Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Deutschen Demokratischen Republik. Sie bedeute auch nicht Ausübung von Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland auf dem Staatsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik und hindere oder beeinträchtige diese nicht darin, die Staatsangehörigkeit ihrer Bevölkerung zu regeln; schließlich ergebe sich aus ihr auch nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland Pflichten der deutschen Staatsangehörigen aus diesem Status in Anspruch nehmen dürfe, solange jene sich im Hoheitsbereich der Deutschen Demokratischen Republik befinden.
Bei Abschluß des Grundlagenvertrags war der Deutschen Demokratischen Republik die unterschiedliche Auffassung der Bundesrepublik Deutschland zur nationalen Frage ebenso bekannt wie deren Auffassung vom Bestehen zweier Staaten in Deutschland, die für einander nicht Ausland sind. Vor wie nach Abschluß des Grundlagenvertragg haben die Bundesregierungen wiederholt erklärt, daß im Abschluß dieses Vertrages eine völkerrechtliche Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik in dem Sinne, daß beide Staaten zueinander Ausland wären, nicht gesehen werden könne. Diese Bekundungen, etwa auch beim gleichzeitigen Beitritt der beiden Staaten zu den Vereinten Nationen, stellten nicht bloße Verbalvorbehalte dar, die am faktisch zu bemessenden Tatbestand einer
völkerrechtlichen Anerkennung nichts zu ändern vermochten; vielmehr verwahrten sie den Rechtsstandpunkt der Bundesrepublik Deutschland, daß sich ihr Rechtsverhältnis zur Deutschen Demokratischen Republik nicht ausschließlich nach Völkerrecht bemesse. Hiervon werde die Souveränität beider Staaten im Verhältnis zu dritten Staaten nicht berührt oder in Frage gestellt.
c) Im letzten Abschnitt des Urteils finden sich dann die anfangs angesprochenen Ausführungen des Senats zum Umfang seiner Kontrolle der völkerrechtlichen Beurteilung der Rechtslage Deutschlands und seiner Teile; diese möge zwar zwischen den Staaten umstritten sein, der völkerrechtlichen Beurteilung durch die zuständigen Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland könne das Bundesverfassungsgericht aber nur entgegentreten, wenn sie offensichtlich völkerrechtswidrig wäre. Davon könne jedoch keine Rede sein.

 

III. Würdigung des Beschlusses

Wie anfangs schon bemerkt, hat der Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts beträchtliche Auswirkungen über den Bereich des Rechts der Staatsangehörigkeit hinaus auf das rechtliche Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland. Angesichts der neuerlichen Aussagen zu Inhalt und rechtlicher Qualität des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots wird er aber auch im Rahmen des fortschreitenden Integrationsprozesses innerhalb der Europäischen Gemeinschaften zu beachten sein.

 

1. Grundsätzliche Vorbemerkung

Für die wegen der zunehmenden internationalen Verflechtung der Bundesrepublik Deutschland sicherlich zahlreicher werdenden verfassungsgerichtlichen Verfahren mit internationalrechtlichen Bezügen ist die Vorgehensweise des Gerichts bedeutsam, das auf dem Boden der Verfassung gewonnene Ergebnis an den Bindungen der Bundesrepublik Deutschland aus dem Völkerrecht zu überprüfen. Zwar ist in diesem Ansatz sicher nicht eine Hinwendung zu einem monistischen Verständnis des Verhältnisses von Völkerrecht und bundesdeutschem Verfassungsrecht zu sehen, in welchem dem Völkerrecht grundsätzlich der Vorrang zukäme, da sich aus anderen Entscheidungen der jüngeren Zeit vielmehr deutliche Hinweise
auf ein dualistisches Verständnis ergeben, zufolge dessen Normen des Völkerrechts nicht in das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland
transformiert und somit als nationale Normen anwendbar werden, sondern den deutschen Rechtsanwendern vom nationalen Recht der Befehl zur
Anwendung der völkerrechtlichen Norm als solcher erteilt wird; zutreffend scheint jedoch die Einschätzung, daß eine auf dem nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland – namentlich ihrer Verfassung – beruhende, von ihm möglicherweise zwingend gebotene Rechtsauffassung zu Sachverhalten mit internationalen Bezügen nur dann als sinnvoll erscheint, wenn sie Normen des Völkerrechts nicht widerspricht, da eine solche Auffassung nur unter diesen Voraussetzungen begründete Aussichten auf internationale Anerkennung und ;Beachtung finden kann.
Ein weiterer Grund für die sorgfältige Berücksichtigung gegebenenfalls
entgegenstehender völkerrechtlicher Bindungen der Bundesrepublik
Deutschland durch ihre Staatsorgane liegt in der vom Gericht in mehreren
Entscheidungen gerade aus jüngster Zeit betonten Aufgabe, das Entstehen
völkerrechtlicher Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihr zurechenbarer völkerrechtswidriger Handlungen ihrer Staatsorgane nach Möglichkeit zu vermeiden. Andererseits ist zu beachten, daß das Gericht hinsichtlich der völkerrechtlichen Beurteilung jedenfalls der
Rechtslage Deutschlands den zuständigen Staatsorganen der Bundesrepublik Deutschland, d. h. in erster Linie Regierung und Parlament, einen
verhältnismäßig weiten Freiraum zugesteht: Erst wenn eine solche Handlung offensichtlich völkerrechtswidrig wäre, könnte das Bundesverfassungsgericht ihr entgegentreten60. Hinsichtlich der Beachtlichkeit des Völkerrechts als Prüfungsmaßstab des Gerichts ergibt sich hieraus folgende Unterscheidung: In den Fällen, in denen eine eindeutige völkerrechtliche Bindung der Bundesrepublik Deutschland besteht, die auf Völkervertrags-oder Völkergewohnheitsrecht beruhen kann, behält sich das Bundesverfassungsgericht zwecks Vermeidung des Entstehens einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland eine umfassende Prüfung vor; insofern besteht also kein Beurteilungsspielraum für Regierung, Parlament und Gerichte, der über das hinausgeht, was im Rahmen der Auslegung von Normen notwendig gegeben ist. In den in der Praxis sicher
zahlreichen Fällen, in denen sich eindeutige völkerrechtliche Regeln wegen
der besonderen Struktur des Völkerrechts nicht feststellen lassen, genießt
die Bundesregierung als das in erster Linie zur Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen befugte Staatsorgan einen wesentlich größeren Freiraum: Erst bei offensichtlich völkerrechtswidrigen Rechtsauffassungen wird das Bundesverfassungsgericht einschreiten. Hierin darf jedoch nicht eine Unterwerfung des Gerichts unter ein politisches Staatsorgan in Rechtsfragen gesehen werden; vielmehr trägt eine solche Haltung dem Umstand Rechnung, daß das Völkerrecht eine Rechtsordnung ist, in der mangels umfassend befugter, zentraler Entscheidungsinstanzen Rechtsbehauptungen eine ganz erhebliche Rolle bei der Herausbildung oder Festigung einer Norm oder einer Rechtslage spielen. Letztlich steht hinter der dargestellten Grundhaltung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts wohl auch ein Verständnis der Gewaltenteilung im Beder Handhabung auswärtiger Politik,- das der Exekutive eine ganz eindeutige Vorrangstellung gegenüber Legislative und judikative zuspricht.

 

2. Die staatsangehörigkeitsrechtlichen Auswirkungen

Wenn auch die staatsangehörigkeitsrechtlichen Ausführungen des Beschlusses notwendig eng mit den Aussagen zur Rechtslage Deutschlands verbunden sind, sollen doch seine wichtigsten staatsangehörigkeitsrechtlichen Auswirkungen getrennt aufgezeigt werden. Wichtig ist hierfür zunächst, daß das Gericht offenbar unterscheidet zwischen denjenigen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik, auf welche auch die Erwerbstatbestände des RuStAG von 1913 zutreffen und die auch ganz überwiegend als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes angesehen wurden und werden, und solchen Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik, welche die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik aufgrund von dortigen Vorschriften erworben haben, die keine Entsprechung in den Erwerbstatbeständen des RuStAG oder sonstigen gesetzlichen Bestimmungen der im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechtsordnung finden.
a) Hinsichtlich der ersten Gruppe, welche die ganz überwiegende
Mehrheit der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik darstellt, ist auch weiterhin davon auszugehen, daß  diese Personen, die also die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik aufgrund eines Erwerbstatbestandes des dortigen Rechts erworben haben, der eine Entsprechung im RuStAG findet, die deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes unmittelbar erlangt haben und nicht etwa – wie der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall – kraft einer Akzeptanznorm der in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechtsordnung.
Diese Auffassung läßt sich zu Recht aus Art. 123 Abs. 1 GG begründen,
wonach das RuStAG fortgilt, soweit es nicht dem Grundgesetz widerspricht. Dies bedeutet, daß die Bestimmungen des RuStAG ungebrochen als fortgeltend anzusehen sind und Art. 123 Abs. 1 GG nicht etwa einen neuerlichen Geltungsgrund oder Geltungsbefehl darstellt. Andererseits bedarf es aber für eine Rechtsfolgenanordnung, nämlich des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes, die nicht in dem nach Art. 123 Abs.1 GG fortgeltenden Recht enthalten war, einer eigenen Geltungsgrundlage im Recht der Bundesrepublik Deutschland, falls sie in deren Hoheitsbereich bindend sein soll. b) Diese Akzeptanznorm findet das Bundesverfassungsgericht – im Unterschied zum Bundesverwaltungsgericht – im Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, dem es ein staatsangehörigkeitsrechtliches Wahrungsgebot entnimmt.
Dies bedeutet zunächst, daß das Gericht, was angesichts mancher Diskussionen der jüngeren Zelt durchaus beachtlich ist, ausdrücklich seine frühere Rechtsprechung bestätigt, wonach der Präambel des Grundgesetzes rechtliche Bedeutung zuzumessen und in ihr insbesondere ein verfassungsrechtliches Wiedervereinigungsgebot verankert sei. Dieses Wiedervereinigungsgebot bedinge nicht nur die Pflicht aller Verfassungsorgane, im Rahmen eines grundsätzlich weiten Gestaltungsspielraums in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Ziels hinzuwirken, sondern führe auch zu einem Wahrungsgebot, nämlich alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde; für den Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts sei dieses Wahrungsgebot in Art. 116 Abs. 1, 16 Abs. 1 GG von der Verfassung selbst konkretisiert. Aus der Präambel und Art. 146 GG folge eindeutig der Wille des Verfassungsgebers, die Bundesrepublik Deutschland als
Reorganisation eines Teilbereiches des deutschen Staates, seiner Staatsgewalt, seines Staatsgebietes und seines Staatsvolkes, zu begreifen. Das Festhalten an der einen deutschen Staatsangehörigkeit in Art.116 Abs.1, 16 Abs.1 GG und damit an der Identität des Staatsvolkes des deutschen Staates wird als deutlichstes Zeichen des Verständnisses von der Subjektsidentität der Bundesrepublik Deutschland mit dem deutschen Staat gewertet.
Aus einer Verknüpfung dieser Subjektsidentität mit dem Wahrungsgebot folgert der Senat, daß es Aufgabe aller Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland sei, die Einheit des deutschen Staatsvolkes nach Möglichkeit zukunftgerichtet auf Dauer zu erhalten. Dies ist deshalb entscheidend, weil das Gericht schon an dieser Stelle vom deutschen Volk als Träger des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts spricht, des Rechts, das für die Begründung seiner Auffassung zur Rechtslage Deutschlands von ausschlaggebender Bedeutung ist. In der Tat wird allein dadurch, daß grundsätzlich jeder Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik, ungeachtet der Qualität des Erwerbsgrundes, zugleich den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes bewirkt, verhindert, daß eine möglicherweise in der Zukunft noch zunehmende Zahl von Staatsbürgern der Deutschen Demokratischen Republik nicht zugleich auch deutsche Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes sind; eine solche Entwicklung führte zweifellos zu einer erheblichen Schwächung der staatsangehörigkeitsrechtlichen Einheit des deutschen Volkes und damit der rechtlichen Wirkkraft seines Anspruches auf Beachtung seines völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts. Wichtig er-; scheint auch der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht mehrfach äußert und damit zugleich wohl auch betont, daß die grundsätzliche Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland eintritt; dem dürfte die zutreffende völkerrechtliche Erwägung zugrundeliegen, daß es der Bundesrepublik Deutschland, wegen der dargestellten Besonderheiten der Rechtslage Deutschlands, von Völkerrechts wegen zwar gestattet ist, grundsätzlich alle Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik als deutsche Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes zu behandeln, sofern diese es wünschen, andererseits aber nicht etwa Drittstaaten in ihrem Rechtsverkehr mit der Deutschen Demokratischen Republik an diese Auffassung der Bundesrepublik Deutschland von Völkerrechts wegen gebunden sind, wobei es fraglosvorrangiges Ziel ihrer Politik bleiben muß, die Beachtung dieser Rechtsauffassung durch solche Drittstaaten zu erreichen.
Im Ergebnis führt dies dazu, daß die Staatsorgane der Deutschen Demokratischen Republik, obwohl in der Ausübung ihrer Hoheitsgewalt nicht dem Grundgesetz unterworfen, durch bestimmte Rechtsakte den Status eines deutschen Staatsangehörigen im Sinne des Grundgesetzes vermitteln.
Diesen Umstand hinnehmen zu müssen, erscheint in der Tat als die allein mögliche Rechtsfolge der im Grundgesetz nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verankerten Grundlage des Staatsverständnisses, daß die Bundesrepublik Deutschland, was Staatsvolk und Staatsgebiet angeht, nicht ganz Deutschland umfaßt, sondern auch die Deutsche Demokratische Republik ein anderer Teil Deutschlands ist und damit auch alle ihre Staatsbürger grundsätzlich deutsche Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes sind. Schon an dieser Stelle findet sich der für die deutschlandrechtlichen Problemkreise grundlegende Satz, daß erst die in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts vollzogene Abtrennung der Deutschen Demokratischen Republik von Deutschland die in der Deutschen Demokratischen Republik ausgeübte Hoheitsgewalt aus der Sicht des Grundgesetzes als fremdstaatliche Gewalt qualifizierte. Dies hätte zur, Folge, daß staatsangehörigkeitsrechtlichen Hoheitsakten dieser dann fremdstaatlichen Gewalt auch nicht mehr die grundsätzliche Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes zugemessen werden könnte; ferner wäre es dann äußerst fraglich, ob die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland weiterhin in völkerrechtlich zulässiger Weise wenigstens diejenigen Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik als deutsche Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes ansehen dürfte, welche die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik aufgrund von Vorschriften erworben haben, die eine Entsprechung im RuStAG finden. Das Ergebnis, daß grundsätzlich alle Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik zugleich auch deutsche Staatsangehörige im Sinne des Grundgesetzes sind,nerweist sich somit als folgerichtiger Schluß des dem Staat Bundesrepublik Deutschland zugrundeliegenden Ziels, alle rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für eine freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes nach Möglichkeit zu erhalten bzw. zu schaffen.
Die Erhaltung gerade der rechtlichen Einheit des deutschen Volkes als
Trägers des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts erscheint als essentielle Voraussetzung für ein aussichtsreiches Bemühen um die Anerkennung und Durchsetzung des Anspruches auf freie Ausübung dieses Selbstbestimmungsrechts. Dieser Umstand verlangt und rechtfertigt es, staatsangehörigkeitsrechtlichen Hoheitsakten der Staatsorgane der Deutschen Demokratischen Republik als zwar nicht dem Grundgesetz unterworfene, aber gleichwohl als deutsche Hoheitsgewalt zu qualifizierende Staatsgewalt grundsätzlich Rechtswirkung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland beizumessen.
c) Diese Rechtswirkung gilt aber nicht ausnahmslos, sondern nur
grundsätzlich, und findet ihre verfassungsrechtliche Grenze am ordre public der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland.
aa) Auf den ersten Blick fällt auf, daß der Senat den ordre public der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und nicht des Deutschen Reiches heranzieht. Dies wäre damit zu begründen gewesen, daß es sich bei der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes eben nicht allein um die Staatsangehörigkeit der Bürger der Bundesrepublik Deutschland handelt, sondern von ihr alle diejenigen Personen umfaßt werden, die staatsangehörigkeitsrechtlich mit dem Deutschen Reich verbunden und Angehörige des deutschen Volkes als seines Staatsvolkes sind.
Die (gesamt-)deutsche Staatsangehörigkeit stellte dabei einen der Restbestände fortgeltenden Reichs- oder gesamtdeutschen Verfassungsrechts dar. Der Grund der Entscheidung des Gerichts für die Heranziehung des ordre public der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland mag darin gesehen werden, daß dies eher mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats vereinbar ist; ist die Bundesrepublik Deutschland mit dem Rechtssubjekt Deutsches Reich identisch, so läßt es sich auch begründen, den ordre public ihrer Rechtsordnung als Maßstab für die Akzeptanz staatsangehörigkeitsrechtlicher Hoheitsakte der Behörden der Deutschen Demokratischen Republik als zwar deutscher, aber nicht der Rechtsordnung des Grundgesetzes unterworfener Staatsgewalten heranzuziehen.
Schließlich ist zu betonen, daß jedenfalls im Hinblick auf Fragen der deutschen Staatsangehörigkeit zwischen beiden Vorstellungen, denen es letztlich vor allem um die Erhaltung der Einheitlichkeit der deutschen Staatsangehörigkeit als essentielle Voraussetzung der weitestmöglichen Bewahrung der Einheit des deutschen Staatsvolkes gehen muß, inhaltlich keine großen Unterschiede bestehen. Angesichts des deutlich pragmatischen Ansatzesdes Senats, der sich, was angesichts der Auseinandersetzungen im Schrifttum nur als bewußter Schritt zu verstehen ist, jeglicher ausdrücklicher Stellungnahme zum sogenannten Theorienstreit enthält, erscheint es folgerichtig, eine für den vorliegenden Fall nicht entscheidungserhebliche Frage in den Gründen des Beschlusses nicht näher zu erörtern.
Letztlich nicht völlig zu überzeugen vermag schließlich der Einwand,
die Heranziehung des ordre public der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sei systemwidrig, weil auf dieses Rechtsinstitut dann zurückzugreifen sei, wenn die Anwendung fremden Rechts Grundwertungen der eigenen Rechtsordnung, insbesondere der Verfassung widerspreche. Nach der Entscheidung des Senats ergebe sich aber die Beachtlichkeit bestimmter staatsangehörigkeitsrechtlicher Hoheitsakte der Deutschen Demokratischen Republik aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes; weshalb sich die Anwendung des ordre public letztlich gegen die eigene Verfassung richte. Diese Auffassung übersieht, daß der Senat mehrfach betont hat, daß es sich bei der in der Deutschen Demokratischen Republik
ausgeübten Hoheitsgewalt zwar nicht um fremdstaatliche, sondern um
deutsche, aber nicht dem Grundgesetz unterworfene Staatsgewalt handelt. Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Bundesrepublik Deutschland sich mit dem Rechtssubjekt Deutschland hinsichtlich des Staatsvolkes nicht als völlig identisch sieht und im Interesse der weltestmöglichen Wahrung der Einheit des deutschen Staatsvolkes die Beachtlichkeit bestimmter staatsangehörigkeitsrechtlicher Hoheitsakte der Deutschen Demokratischen Republik hinnimmt, bedeutet die Lösung des Senats, daß das Rechtsinstitut des ordre public, präziser als bisher zumeist
formuliert, bei der Anwendung nicht nur fremdstaatlichen Rechts, sondern jedes nicht unter der Geltung des Grundgesetzes gesetzten Rechts eingreifen kann.
bb) Durchaus in Einklang mit dem erwähnten pragmatischen Vorgehen
enthält der Beschluß keine umfangreichen Darstellungen zum Inhalt des ordre public der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf von der Deutschen Demokratischen Republik gesetzte staatsangehörigkeitsrechtliche Hoheitsakte. Dies war im zu entscheidenden Fall in der Tat nicht notwendig. Immerhin findet sich in Übereinstimmung mit einem Verständnis des ordre public als eines funktionalen, auf den jeweiligen Bereich des betroffenen Rechtsgebietes bezogenen Begriffs der Hinweis, daß sich der Inhalt. des ordre public der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in Fragen des Staatsangehörigkeitsrechts vor allem an den grundlegenden Wertungen dieses Rechtsgebiets, namentlich am Wiedervereinigungsgebot zu orientieren hat.
Für Einbürgerungen in der Deutschen Demokratischen Republik, die
aufgrund von Vorschriften erfolgen, die im RuStAG keine Entsprechung
finden, und deren Beachtlichkeit daher auf der Grundlage der Akzeptanznorm Wiedervereinigungsgebot beruht, folgt im Hinblick auf das grundlegende Ziel, die Einheit des deutschen Staatsvolkes weitestmöglich zu wahren, daß solche Einbürgerungen grundsätzlich zu akzeptieren sind, sie also zugleich den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit im: Sinne des Grundgesetzes bewirken. Ausnahmen sind Wohl nur dann denkbar, wenn sich im Einzelfall deutlich zeigt, daß die eingebürgerte Person über keinerlei Bindungen an Deutschland, an das deutsche Staätsvolk verfügt.
Problematisch erscheinen vor allem die Fälle, in denen der Eingebürgerte durch sein Verhalten nachhaltig gegen das, Wiedervereinigungsgebot als Kriterium der inhaltlichen Bestimmung des ordre public verstoßen hat.
Die Frage der Beachtlichkeit von in der Deutschen Demokratischen
Republik vorgenommenen Ausbürgerungen läßt sich einmal dadurch lösen, daß man die Wirkkraft der grundgesetzlichen Akzeptanznorm Wiedervereinigungsgebot auf solche Hoheitsakte nicht erstreckt; eines Rückgriffes auf den ordre public der Rechtsordnung der Bundesrepublik
Deutschland bedarf es dann nicht76. Aber auch bei Anwendung des staatsangehörigkeits- und grundrechtlich bestimmten ordre public käme Ausbürgerungen durch Hoheitsakte der Deutschen Demokratischen Republik wegen der grundlegenden Bestimmung des Art. 16 Abs.1 GG nur dann Rechtswirkung im Hinblick auf die deutsche Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes zu, wenn die zugrundeliegende- Norm des Staatsbürgerschaftsrechts der Deutschen Demokratischen Republik in Inhalt und Anwendung eine Entsprechung im RuStAG fände. Der Senat mußte zu der Frage von Ausbürgerungen im zu entscheidenden Fall nicht Stellung nehmen; ob aus der Formulierung, daß dem Erwerb der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen des ordre public die Rechtswirkung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit beizumessen ist, gefolgert werden kann, daß der Senat die Akzeptanznorm Wiedervereinigungsgebot nur auf den Erwerb, nicht aber auf Verlust und Entzug der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik angewendet wissen will, was der ersten Lösung entspräche, muß offen bleiben. Immerhin ist zu unterstreichen, daß sich hinsichtlich der Behandlung von Entlassungen aus der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik für die Praxis der Behörden der Bundesrepublik Deutschland aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine Änderungen ergeben.
d) Ferner ist darauf hinzuweisen, daß der Senat betont, daß eine Aktualisierung der Rechte und Pflichten aus der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes gegenüber Staatsbürgern der Deutschen Demokratischen Republik nur dann nicht gegen völker- und deutschlandrechtliche Bindungen der Bundesrepublik Deutschland verstößt und somit rechtmäßig ist, wenn sich die Berechtigten im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und die Inanspruchnahme dieses Status begehren oder jedenfalls hinnehmen. In diesem Fall handelt es sich eindeutig nicht um einen Eingriff in die Hoheitsgewalt der Deutschen Demokratischen Republik. Die einschlägige Praxis der Behörden der Bundesrepublik Deutschland scheint, nach anfänglichen Unklarheiten und abgesehen von einigen Einzelfällen, diesen vom Bundesverfassungsgericht bestätigten  Vorgaben zu entsprechen Hinsichtlich der vor allem politisch immer wieder umstrittenen Frage der Anerkennung der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik ergibt sich aus dem Beschluß, daß eine solche Anerkennung in dem – von der Deutschen Demokratischen Republik in der Vergangenheit immer wieder geforderten – Sinne, daß der Besitz der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik ein gleichzeitiges Innehaben der deutschen Staatsangehörigkeit im Sinne des Grundgesetzes ausschließe, wegen Verstoßes gegen das Wiedervereinigungsgebot in seiner Ausformung des staatsangehörigkeitsrechtlichen Wahrungsgebotes verfassungswidrig wäre. In diesem Bereich hat das Bundesverfassungsgericht den für die Deutschlandpolitik zuständigen Staatsorganen eine klare Richtschnur gegeben. Im Ergebnis haben also grundsätzlich alle Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik, jedenfalls für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, zwei Staatsangehörigkeiten: die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik und die unter be- …………………………………

…..völkerrechtlich als occupatio bellica, nicht als eine den völkerrechtlichen Untergang bewirkende debellatio anzusehen, was sich nicht zuletzt aus den einschlägigen, völkerrechtlich beachtlichen Handlungen und Aussagen der vier Hauptsiegermächte ergibt: Einmal stellten diese klar, daß die Inanspruchnahme der obersten Gewalt in bezug auf Deutschland nicht dessen Annektierung bedeute zum anderen haben sie sich bis zum heutigen Tag ihre Rechte in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin vorbehalten.

Die Bundesrepublik Deutschland ist als Völkerrechtssubjekt identisch
mit dem im Jahre 1871 gegründeten deutschen Staat, was im Grundgesetz deutlich zum Ausdruck kommt und im völkerrechtlichen Verkehr von vielen Staaten anerkannt wurde. Diese Subjektsidentität wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß sich die gebietliche Hoheitsgewalt der Bundesrepublik Deutschland auf den räumlichen Anwendungsbereich des Grundgesetzes beschränkt, da selbst eine endgültige Statusänderung von Teilen seines Staatsgebiets nach Völkerrecht die Identität eines staatlichen Völkerrechtssubjekts nicht verändert.

Selbst wenn man in der von der Deutschen Demokratischen Republik
seit dem Jahre 1949 durchlaufenen rechtlichen Entwicklung eine vollendete völkerrechtliche Sezession aus dem deutschen Staatsverband sähe, was schon allein wegen des fortbestehenden Viermächtestatus Deutschlands als Ganzen ausgeschlossen ist, bewirkte dies in keinem Fall den Untergang des deutschen Staates. Da selbst eine vollendete, völkerrechtlich wirksame Sezession eines Teilgebietes nicht die völkerrechtliche Subjektsidentität des verbleibenden staatlichen Teils verändert85, kann die von der Deutschen Demokratischen Republik durchlaufene Entwicklung die genannte Subjektsidentität der Bundesrepublik Deutschland mit dem fortbestehenden deutschen Staat nicht beeinträchtigen.
– Die im Rahmen der auf diese Sezession der Deutschen Demokratischen Republik zielende Politik erfolgte Aufnahme der beiden Staaten in Deutschland in die Vereinten Nationen bewirkt, daß die Deutsche Demokratische Republik spätestens seit diesem Zeitpunkt als Staat im Sinne des Völkerrechts anzusehen ist. Die Spaltung Deutschlands in diese beiden Staaten ist jedoch nicht vom völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrecht gedeckt, dessen Träger das ganze deutsche Volk ist.

Der Umstand, daß dem deutschen Volk der ihm in seiner Gesamtheit
zustehende Anspruch auf freie Ausübung des vom allgemeinen Völkerrecht mittlerweile als essentielle Grundlage der internationalen Rechtsordnung anerkannten Selbstbestimmungsrechts vorenthalten wurde, erlaubt es der Bundesrepublik Deutschland, in ihrem Verhältnis zur Deutschen Demokratischen Republik vom Fortbestand auch staatsrechtlicher Bindungen auszugehen. Es ist der Bundesrepublik Deutschland auf dieser Rechtsgrundlage vom Völkerrecht nicht untersagt, die Deutsche Demokratische Republik im bilateralen Verhältnis nicht als Ausland, sondern als nicht dem Grundgesetz unterworfenen Teil Deutschlands anzusehen. Dieser Umstand gestattet ihr von Völkerrechts wegen auch das Festhalten an der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit.

Das gleiche Ergebnis läßt sich auch auf den fortbestehenden Viermächte-Status Deutschlands als Ganzen und Berlins stützen, der einem einseitigen Ausscheiden der Deutschen Demokratischen Republik aus diesem Status und damit dem fortbestehenden deutschen Staatsverband entgegensteht. –
Die von den zuständigen Staatsorganen der Bundesrepublik Deutschland durchgängig bis auf den heutigen Tag befolgte, völkerrechtlich relevante Praxis, die Deutsche Demokratische Republik im Rechtsverhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht völkerrechtlich anzuerkennen gestattet es dieser vor dem Völkerrecht, ihr Verhältnis zur Deutschen Demokratischen Republik als nicht ausschließlich vom allgemeinen Völkerrecht bestimmt anzusehen.

Die von den zuständigen Staatsorganen der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Abschluß des Grundlagenvertrags zwischen den beiden Staaten in Deutschland abgegebenen, völkerrechtlich beachtlichen Bekundungen und Erklärungen bewirken, daß das Festhalten am Fortbestand der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit die nach Maßgabe der Bestimmungen. des Grundlagenvertrages von der Bundesrepublik Deutschland zu achtende Selbständigkeit; und Unabhängigkeit der Deutschen Demokratischen Republik nicht verletzt. Dies steht unter der Voraussetzung, daß die Bundesrepublik Deutschland Pflichten aus diesem staatsangehörigkeitsrechtlichen Status nicht im Hoheitsbereich der Deutschen Demokratischen Republik in Anspruch nimmt, sondern die aus diesem Status folgenden Rechte und Pflichten immer erst dann aktualisiert, wenn die Betroffenen in den Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland gelangen und die Aktualisierung hinnehmen oder begehren. – Im Hinblick auf die Sicherung der effektiven Möglichkeit der freien Ausübung des vom allgemeinen Völkerrecht verbrieften Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes ist eine auf die Wahrung der Einheitlichkeit der deutschen Staatsangehörigkeit als völkerrechtlich ausschlaggebendes Bestimmungsmerkmal der Zugehörigkeit zum deutschen Volk als
des Trägers des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts zielende
Rechtsauffassung auch in der vom Grundgesetz geforderten, auf die Zukunft bezogenen Ausrichtung von Völkerrechts wegen zulässig.
Unter den deutschlandrechtlichen Aussagen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts verdient, insbesondere im Vergleich mit dem Inhalt des Urteils zum Grundlagenvertrag, die Heranziehung des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes als Grund für die völkerrechtliche Zulässigkeit der Rechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland zu den mit der Rechtslage Deutschlands zusammenhängenden Rechtsfragen besondere Beachtung und Zustimmung. Zum einen trägt der Senat damit der jüngeren völkerrechtlichen Entwicklung Rechnung und stützt sich hierbei auf ein Rechtsinstitut, dessen deutschlandrechtliche Auswirkungen sich den für den Völkerrechtsverkehr zuständigen Organen dritter Staaten gut vermitteln lassen sollten. Zum anderen steht zu befürchten, daß mehr als 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die deutschlandrechtliche Rechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie ausschließlich auf den fortbestehenden Viermächtestatus Deutschlands als Ganzen und Berlins gestützt würde, Gefahr liefe, im Völkerrechtsverkehr als zunehmend unbeachtlich angesehen zu werden, weil sie im Rahmen einer allein auf die Effektivität bezogenen Sichtweise nicht mehr stichhaltig erschiene. Es überzeugt daher, daß der Senat für die völkerrechtliche Zulässigkeit der dargestellten Rechtsauffassung der Bundesrepublik Deutschland die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes und nicht den fortbestehenden Viermächtestatus Deutschlands als Ganzen als ausschlaggebend erachtet.

 

4. Europarechtliche Auswirkungen

Ausgelöst durch die Vereinbarung der Verwirklichung des Binnenmarktes innerhalb der Europäischen Gemeinschaften und die an Intensität zunehmenden Bemühungen um eine stärkere politische und rechtliche Integration ihrer Mitgliedstaaten hat in jüngster Zeit die Diskussion um die bisweilen in Frage gestellte Vereinbarkeit von Westintegration und Wiedervereinigung eine deutliche politische und publizistische Belebung erfahren. Eine gründliche Untersuchung, ob sich insoweit aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere aus dem hier dargestellten Beschluß, klare verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen ableiten lassen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Immerhin sollen jedoch zumindest einige für die künftige Europapolitik einer jeden Bundesregierung beachtliche Grundaussagen zueinander in Bezug gesetzt werden.
Für den Prozeß der europäischen Einigung ist zunächst von Bedeutung,
daß sehr vieles dafür spricht, daß die Bezugnahme auf ein vereintes Europa in der Präambel des Grundgesetzes keineswegs auf die früheren oder jetzigen Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften oder auch des Europarats beschränkt ist. Insoweit bleibt abzuwarten, welche Ergebnisse die in Gang gekommene gedankliche und auch tatsächliche Wandlung in den nicht dem Europarat angehörenden Staaten Europas hervorbringen wird.
Für die fortschreitende Integration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften ist aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts von Bedeutung, daß das Bundesverfassungsgericht gerade in jüngster Zeit zum einen wiederholt hat, daß die Mitgliedstaaten auch weiterhin die Herren der Gemeinschaftsverträge sind und daß ferner den Europäischen Gemeinschaften weder eine Rechtsprechungsgewalt zur unbegrenzten Kompetenzerweiterung noch die territoriale Souveränität noch die Gebiets- und Personalhoheit der Mitgliedstaaten übertragen worden ist; auch beträfen ihre auswärtigen Kompetenzen begrenzte Bereiche. Im Zusammenhang mit den deutschlandrechtlichen Aussagen im Urteil zum Grundlagenvertrag und im Teso-Beschluß wird hieraus zu Recht gefolgert, daß der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Ziel ihrer Politik, dem ganzen deutschen Volk durch eine entsprechende Ausübung seines Rechts auf freie Selbstbestimmung auch die Wiedervereinigung zu ermöglichen, ein gewisser europarechtlicher Rahmen gesetzt wird. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der im Teso-Beschluß bestätigten früheren Rechtsprechung, daß bei der Verfolgung des Wiedervereinigungsgebots den politischen Organen ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt, und aus diesem Gebot nicht gefolgert werden könne, es müßten bestimmte Handlungen zu diesem Zwecke vorgenommen werden. Das Gericht hat auch wiederholend betont, daß es dem Gesetzgeber erst dann entgegentreten könnte, wenn eine seiner Maßnahmen, im vorliegenden Bereich also die Ratifizierung auf die weitere Integration innerhalb der Europäischen Gemeinschaften bezogener Verträge, rechtlich oder tatsächlich einer Wiedervereinigung in Freiheit offensichtlich entgegenstünde.
Es wäre nun sicher nicht zutreffend, zwischen dem Wiedervereinigungsgebot und dem ebenfalls in der Verfassung verankerten Ziel der Schaffung eines vereinten Europas einen -unvereinbaren Gegensatz herzustellen.
Die Entscheidung darüber, welches der beiden Ziele sich aufgrund der
jeweiligen politischen Gegebenheiten gerade mit mehr Aussicht auf Erfolg vorantreiben läßt, bleibt grundsätzlich den für die Ausübung der auswärtigen Gewalt zuständigen Staatsorganen vorbehalten. Die Grenzen des genannten Gestaltungsspielraums wären wohl erst dann überschritten, wenn die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der europäischen Integration rechtliche Bindungen einginge, die der Verwirklichung der auf einer freien Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes beruhenden Wiedervereinigung der beiden Staaten in Deutschland rechtlich
oder tatsächlich eindeutig. entgegenstünden. Es erscheint daher angezeigt, daß die Bundesregierung zunächst im Rahmen aller auf eine fortschreitende europäische Integration zielenden Verhandlungen auf diese spezifisch deutschlandrechtlichen Aspekte hinweist und sie soweit als möglich in die künftige Politik der Europäischen Gemeinschaften. gegenüber den europäischen Nicht-Mitgliedstaaten einzubringen sucht. Erforderlich erscheint jedenfalls, bei der Unterzeichnung und Ratifikation eines weiteren europarechtlichen Integrationsinstruments durch die Abgabe entsprechender Vorbehalte oder Erklärungen völkerrechtlich verbindlich zu bekunden, daß die Bundesrepublik Deutschland davon ausgeht, daß die europäische Integration einer auf die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen Volkes gestützten Wiedervereinigung nicht entgegensteht und in einem solchen Falle eine entsprechende Überprüfung und
gegebenenfalls Erweiterung der Gemeinschaftsverträge nicht ausgeschlossen ist. Die bei der Unterzeichnung der Gründungsvertrage von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischer Atomgemeinschaft in Rom im Jahre 1957 zu Protokoll gegebene einschlägige Erklärung der Bundesregierung hat den bisherigen Integrationsprozeß offenkundig nicht behindert; es ist nicht einzusehen, warum gleiches nicht auch für die künftige Entwicklung, auch unter Berücksichtigung einer neuerlichen klarstellenden Bekundung durch die Bundesregierung, gelten sollte. Ohnehin
muß eine auf europäische Integration zielende Politik, die sich auf die
bisherigen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften oder die des Europarats beschränkt und nicht gleichzeitig, wenigstens als mittelfristiges Ziel, die Überwindung der Teilung Europas und eine möglichst weitgehende Einbindung der anderen europäischen Staaten anstrebt, als europapolitisch verfehlt angesehen werden.
Nur hingewiesen werden soll abschließend auf eine aktuelle Auswirkung
der verfassungsrechtlichen Bindungen aus dem Wiedervereinigungsgebot auf die bevorstehende Verwirklichung des Binnenmarktes in bezug auf den innerdeutschen Handel. Bisher besitzen die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften die auch tatsächlich mit einiger Aussicht auf Erfolg durchsetzbare Möglichkeit, in der Deutschen Demokratischen Republik produzierte Waren, die im Rahmen des innerdeutschen Handels in die Bundesrepublik Deutschland gelangt waren, an ihren Grenzen entweder einer Nachverzollung zu unterwerfen oder ihre Einfuhr ganz zu untersagen. Mit dem vorgesehenen Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften könnte die Gefahr eines zunehmenden und nurmehr schwer zu unterbindenden Mißbrauchs des innerdeutschen Handels entstehen. Ob etwa die grundsätzliche Belegung von Waren aus der Deutschen Demokratischen Republik bei ihrer Einfuhr in die Bundesrepublik Deutschland an der innerdeutschen Grenze als der Außengrenze der Europäischen Gemeinschaften mit einer – gegebenenfalls dem Endverbraucher in der Bundesrepublik Deutschland zu erstattenden –
Einfuhrabgabe mit den Grundprinzipien des innerdeutschen Handels vereinbar wäre, der immerhin im Urteil zum Grundlagenvertrag ausdrücklich erwähnt wurde, erscheint jedenfalls zweifelhaft; ob eine solche Maßnahme daher im Hinblick auf das Wahrungsgebot des
Grundgesetzes verfassungsrechtlich zulässig wäre, läßt sich ebenfalls nicht ohne weiteres bejahen. Außerdem erscheint es fraglich, ob eine solche Maßnahme, die auch mit nicht unerheblichen Verwaltungskosten verbunden wäre, dem befürchteten Mißbrauch tatsächlich entscheidend entgegenwirken könnte.

 

C. Ausblick

Fast 15 Jahre nach seinem Urteil zum Grundlagenvertrag hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem Teso-Beschluß die Auffassung des Gerichts zur Rechtslage Deutschlands inhaltlich weitgehend bestätigt und um die seinerzeit nicht erforderlichen Ausführungen zur Problematik der Staatsangehörigkeit im geteilten Deutschland ergänzt. Wie auch immer man zur juristischen Richtigkeit des Beschlusses stehen mag, ist doch zu begrüßen, daß in einer so zentralen Frage deutschen Verfassungsrechts den zuständigen politischen Staatsorganen der Bundesrepublik Deutschland mit dieser neuerlichen Entscheidung eine: aktuelle Leitlinie gegeben, ein Stück mehr an in diesem delikaten Problemfeld so notwendiger Rechtssicherheit geschaffen wurde. Vor allem erscheint wichtig daß die verfassungsrechtliche Würdigung um umfangreiche Darlegungen zur völkerrechtlichen Zulässigkeit der nach Auffassung des Senats verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsauffassung der Bundesrepublik
Deutschland vervollständigt wurde; dieser schon grundsätzlich überzeugende Ansatz erfährt weiteres Gewicht durch die herausragende Bedeutung, die dem Umstand beigemessen wird, daß dem ganzen deutschen Volk bislang sein ihm von Völkerrechts wegen zustehender Anspruch auf freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts vorenthalten wurde. In der Tat liegt hier, und nicht so sehr im alleinigen Verweis auf den fortbestehenden Viermächtestatus Deutschlands als Ganzen und Berlins, die aussichtsreichste Chance, dem Ziel der Schaffung der Möglichkeit einer freien Entscheidung zur Wiedervereinigung der beiden Staaten in Deutschland auch auf internationaler Ebene näher zu kommen. Gerade in einer Zeit, die in Europa von sich ankündigenden tiefgreifenden Veränderungen – zumal im Verhältnis von (Völker-)Recht und Politik –
gekennzeichnet ist, erscheint es notwendig, politische Optionen in einen zumindest nachvollziehbaren rechtlichen Rahmen zu stellen.

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