Das Tatbestandsmerkmal der „Deutschen“ in den Grundrechten

WD 3 – 3000 – 430/18

Wissenschaftliche Dienste

2018 Deutscher Bundestag

 

Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung 4
2. Verfassungshistorischer Hintergrund 4
2.1. Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) 4
2.2. Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) 5
2.3. Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) 5
2.4. Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) 6
3. Grundrechtsschutz für Unionsbürger 7
3.1. Diskriminierungsverbot (Art. 18 Abs. 1 AEUV) 7
3.2. Bedeutung einer Grundgesetzänderung 8

 

1. Fragestellung
Der Schutzbereich der sogenannten Deutschengrundrechte umfasst ausweislich ihres Wortlauts nur „Deutsche“. Die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), die Vereinsfreiheit (Art. 9 GG), die Freizügigkeit (Art. 11 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) sind dergestalt formuliert.
Es stellt sich die Frage nach der Entstehungsgeschichte dieser Grundrechte. Ferner stellt sich die Frage, ob Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten von einem höheren Grundrechtschutz profitieren würden, wenn „Deutschengrundrechte“ infolge einer Grundgesetzänderung ausdrücklich auf Unionsbürger anwendbar wären.

 

2. Verfassungshistorischer Hintergrund

2.1. Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG)
Art. 8 des Chiemseer Entwurfs eines Grundgesetzes sah zunächst vor, dass „Alle“ das Recht haben sollten, sich ohne vorherige Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln.
In der 6. Sitzung des Grundsatzausschusses des Parlamentarischen Rates schlug das Redaktionskomitee jedoch vor, dass nur „Alle Deutschen“ dieses Recht der Versammlungsfreiheit erhalten sollten. Dabei ging es nicht darum, „daß Ausländer keine Versammlungsfreiheit haben sollten“.
Die Versammlungsfreiheit „stehe bei Ausländern allerdings nicht unter Verfassungsschutz und könne ‚administrativ oder sonstwie’ eingeschränkt werden“. Diese Beschränkung lag also in einem „klassischen Verständnis politischer Souveränität“ begründet, das die Ausübung politisch-staatsbürgerlicher Rechte den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten wollte. Ein Vorschlag der KPD Fraktion, die Versammlungsfreiheit für „alle Menschen“ verfassungsrechtlich zu schützen, wurde in der 25. Sitzung des Grundsatzausschusses abgelehnt: „Sie wollen auch allen Ausländern das Recht geben. Der Hintergrund ist klar“, kommentierte der Vorsitzende v. Mangoldt (CDU) den Vorschlag der KPD.9 Der CDU-Abgeordnete Schrage ergänzte: „Wir wollen es für die Deutschen machen.

 

2.2. Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG)
Auch bezüglich der Vereinigungsfreiheit sah der Chiemseer Entwurf in Art. 9 noch vor: „Alle haben das Recht, Vereine oder Gesellschaften zu bilden“, während der Redaktionsausschuss die Formulierung „Alle Deutschen“ vorschlug. In der 6. Sitzung des Grundsatzausschusses äußerte der SPD-Abgeordnete Eberhard ob dieser Änderung Bedenken an: Er fürchtete, dass bei einer derart prononcierten Einschränkung auf die „Deutschen“ andere Länder den im Ausland lebenden Deutschen ebenfalls das Recht der Vereinigung und Versammlung verbieten könnten. Der stellvertretende Ausschussvorsitzende Zinn (SPD) erläuterte darauf hin, dass der Bundesrepublik bei dieser Fassung gerade die Möglichkeit verbleibe, durch Staatsverträge mit ausländischen Staaten im Ausland die Vereinsfreiheit zu sichern – anders, als wenn man Ausländern dieses Recht von vornherein gewähren würde. Auch in anderen Verfassungen, so z.B. in der belgischen, seien die Vereinigungs- und die Versammlungsfreiheit ausdrücklich auf die Landesangehörigen beschränkt, so Zinn. Der Ausschussvorsitzende v. Mangoldt (CDU) warnte davor, dass „bolschewistische Vereinigungen“ ansonsten jede Möglichkeit ausnutzen würden, um „das System zu untergraben“. CDU-Abgeordneter Pfeiffer ergänzte, dass auch unter deutsches Recht gestellte „displaced persons“ dann „unkontrollierte Vereinigungen“ bilden könnten, mit denen man – wie in der Vergangenheit – voraussichtlich schlechte Erfahrungen machen würde.

 

2.3. Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG)
Art. 111 der Weimarer Reichsverfassung gewährte das Recht der Freizügigkeit allen Deutschen.
Der Herrenchiemseer Konvent griff dieses jedoch zunächst nicht als Grundrecht auf. Man glaubte, in den „gegenwärtigen Zuständen“ wegen der hohen Zahl an Flüchtlingen und der Lage auf dem Wohnungsmarkt ein solches Recht schlicht nicht gewährleisten zu können. Im Parlamentarischen Rat formulierte das Redaktionskomitee das Recht auf Freizügigkeit dennoch erneut als Grundrecht.
Der „wichtigste Streitpunkt“ im Grundsatzausschuss, der sich über diverse Sitzungen hinzog, betraf die Frage, ob man allen „Deutschen“ das Recht auf Freizügigkeit gewähren sollte, oder nicht lieber nur allen „Bundesangehörigen“.
Würde man allen „Deutschen“ die Freizügigkeit gewähren, so die Befürchtung, würden man „den 16 Millionen Deutschen östlich unserer Grenzen“ die freie Wahl des Aufenthalts und Wohnsitzes im Bundesgebiet eröffnen. Der SPD-Abgeordnete Schmid gab zu bedenken, dass man bei einer Beschränkung auf die „Bundesangehörigen“ eine „Zäsur zwischen den Deutschen, die im Osten leben, und den Deutschen, die im Westen leben“ schaffe, die zugleich eine „verfassungsrechtliche Festigkeit“ bekomme. Man müsse zwar für „gewisse verwaltungsmäßige Abscheidungen“ den Begriff des Bundesangehörigen schaffen, so Schmid; die Deutschen der Ostzone aber vom Genuss der Freizügigkeit auszuschließen, erscheine ihm höchst fraglich. Der Antrag der SPD-Fraktion, „Alle Bundesangehörigen“ durch „Alle Deutschen“ zu ersetzen, setzte sich im Ergebnis durch. Zugleich wurden in Art. 11 Abs. 2 verschiedene Einschränkungen formuliert.

 

2.4. Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)
Zur Berufsfreiheit hatte der Chiemseer Entwurf in Art 16 formuliert: „Jeder hat die freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes“.
Im Parlamentarischen Rat erwog man zunächst, die Berufsfreiheit gemeinsam mit der Freizügigkeit in einem Artikel zu regeln, da Freizügigkeit nur dann möglich sei, wenn jeder den Arbeitsplatz frei wählen könne. Entsprechend der Freizügigkeitsproblematik wurde diskutiert, ob nur „Jeder Bundesangehörige“ oder „Jeder Deutsche“ das Recht auf freie Berufswahl erhalten sollte und ob man dieses Recht in der Praxis überhaupt schon gewährleisten könne. Auch bei der Berufsfreiheit, die schließlich doch in einem eigenen Artikel geregelt wurde, einigte man sich im Ergebnis auf die Formulierung „Jeder Deutsche“.

 

3. Grundrechtsschutz für Unionsbürger

3.1. Diskriminierungsverbot (Art. 18 Abs. 1 AEUV)
Problematisch ist der persönliche Schutzbereich der sogenannten Deutschengrundrechte insbesondere in Hinblick auf Unionsbürger, also Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbietet ausdrücklich jede Schlechterstellung von Unionsbürgern aufgrund der Staatsangehörigkeit. Dieses Diskriminierungsverbot entfaltet eine unmittelbare Wirksamkeit, sodass der Art. 18 AEUV einen grundrechtsähnlichen Charakter aufweist.
Aufgrund des Anwendungsvorranges des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht herrscht weitegehende Einigkeit darüber, dass die Rechte aus Art. 8, 9, 11 und 12 GG im Ergebnis auch für Unionsbürger mit einem ebenso hohen Schutz gelten müssen. Für die Frage, auf welche Weise dieser Schutz erreicht werden soll, existieren in der Literatur unterschiedliche Lösungsansätze.
Einige Stimmen vertreten die Auffassung, dass Unionsbürger durch eine „effektive einfachgesetzliche Gleichstellung“ ausreichend geschützt werden könnten. Teils wird dies damit begründet, dass das Unionsrecht keine Aussage darüber enthalte, auf welcher Ebene der innerstaatlichen Normenhierarchie die Mitgliedstaaten für einen entsprechenden Schutz der Unionsbürger sorgen müssten, sodass dies auch unterhalb der Verfassungsebene möglich sei.
Nach anderer, verbreiteter Ansicht soll das „Auffanggrundrecht“ des Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) durch eine unionsrechtskonforme Auslegung den Unionsbürgern ebenso umfassenden Schutz wie Deutschen gewähren. Aufgrund des Art. 18 AEUV sei dann auf der Schrankenebene eine „europarechtlich intendierte strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung“ erforderlich.
Ein großer Teil der Literatur geht schließlich von einem unmittelbaren Schutz durch das jeweilige „Deutschengrundrecht“ aus. Aufgrund des Art. 18 AEUV gelte der Anwendungsvorrang des Unionsrechts dergestalt, dass das restriktive Schutzbereichsmerkmal „Deutschen“ bei Unionsbürgern nicht anzuwenden sei. Teilweise wird auch argumentiert, dass der Wortlaut („Deutschen“) zwar keine europarechtskonforme Auslegung im engeren Sinne erlaube, jedoch eine den „Wortlaut überschreitende unionsrechtskonforme Rechtsfortbildung auf Verfassungsebene“ anzudenken sei.

 

3.2. Bedeutung einer Grundgesetzänderung
Eine Änderung des Grundgesetzes, die die „Deutschengrundrechte“ ausdrücklich auch für Unionsbürger öffnen würde, hätte zunächst symbolische Bedeutung. Während bereits jetzt große Einigkeit
über die Frage des „Ob“ der Geltung des gleichen Schutzniveaus der Grundrechte für Unionsbürger herrscht, würde dadurch insbesondere der Streit der Literatur um die Lösung des „Wie“ gelöst.
Darüber hinaus könnte durch eine Grundgesetzänderung aber auch die Rechtssicherheit der Unionsbürger gestärkt werden.
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(https://www.bundestag.de/resource/blob/594972/35f7c433e910c4138a35df6a6b717133/WD-3-430-18-pdf-data.pdf)

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