– Angeblicher Staatsstreich

 

Treffen mit Ausserirdischen und «besoffenes Stammtischgerede» – was bleibt vom angeblichen Staatsstreich der Reichsbürger?

 

Vor vier Monaten herrschte in Deutschland Panik wegen eines angeblich unmittelbar bevorstehenden Umsturzversuchs. Seither ist es eigenartig still. Ein hochrangiger Nachrichtendienstler spricht von einem «blöden politischen Druck».

Gut vier Monate ist es her, dass in Deutschland grosse Aufregung herrschte, weil ein vermeintlicher «Staatsstreich» sogenannter Reichsbürger angeblich gerade noch hatte verhindert werden können. Mehr als 3000 Polizeibeamte, unter ihnen Angehörige der Elitetruppe GSG 9, hatten am 7. Dezember 2022 Häuser, Wohnungen und Büros in elf Bundesländern durchsucht. Gegen rund 60 Beschuldigte wird ermittelt, 23 Tatverdächtige sitzen bis heute in Untersuchungshaft.

Ihnen wird die Bildung einer terroristischen Vereinigung nach Paragraf 129a des deutschen Strafgesetzbuchs vorgeworfen. Dieser Paragraf stammt aus den Zeiten, als die linksextremistische Rote-Armee-Fraktion (RAF) in den 1970er Jahren das Land mit kaltblütigen Morden in Angst und Schrecken versetzte. Die Strafprozessordnung erlaubt in solchen Fällen Massnahmen wie Isolation, Besuchsbeschränkungen und die Kontrolle der Anwaltspost. Diese Verschärfung findet offenbar auch im Falle der derzeit Tatverdächtigen Anwendung.

Ist das gerechtfertigt? Ging und geht von den Tatverdächtigen eine derartige Gefahr aus?

Weder das Bundeskriminalamt (BKA) noch der Generalbundesanwalt geben Auskünfte zu dem laufenden Verfahren. Anfang Juni muss allerdings der Bundesgerichtshof die Fortdauer der Untersuchungshaft überprüfen, denn länger als sechs Monate soll diese in der Regel nicht dauern.

Seit Dezember schon werden die Tatverdächtigen verhört. Zeugen werden vernommen, zusätzliche Beweise erhoben, beschlagnahmtes Material wird ausgewertet. Auf der Grundlage der dabei gewonnenen Erkenntnisse kam es im März zu weiteren Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Ein bis zu jenem Zeitpunkt gar nicht im Visier der Fahnder stehender Mann schoss dabei auf Polizisten und verletzte einen Beamten.

Grosser Medienrummel beim Zugriff

Betrachtet man den Komplex «Staatsstreich» mit etwas zeitlichem Abstand, dann sind daran zwei Punkte interessant. Da ist zum einen der Umgang der Behörden mit der Presse – und da ist zum anderen das Verhalten vieler Pressevertreter selbst.

Am 7. Dezember, dem Tag des ersten grossen Zugriffs, warteten frühmorgens erstaunlich viele Journalisten und Fernsehteams an den unterschiedlichen Orten, an denen Hausdurchsuchungen stattfanden. Ein hochrangiger Beamter der Bundespolizei sagte der NZZ, es könne schon einmal vorkommen, dass die Staatsanwaltschaft der Presse einen Tipp gebe. Aber dass sich seine Leute einen Weg durch die Menge der Berichterstatter bahnen müssten, sei doch eher ungewöhnlich.

Rechtsanwälte wurden damals am frühen Morgen offenbar auf gut Glück von Journalisten angerufen, die herausfinden wollten, ob sie die Terrorverdächtigen verteidigen würden – die zu jenem Zeitpunkt allerdings noch gar nicht verhaftet waren. Bereits gegen 7 Uhr 30 erschienen Onlineartikel von «Spiegel» und «Zeit», die so lang und detailliert waren, dass sie ohne Vorabinformationen schwerlich hätten zustande kommen können.

Der Berliner «Tagesspiegel»-Journalist Jost Müller-Neuhof, der deutsche Bundesbehörden oft und gerne auch auf gerichtlichem Wege an ihre Auskunftspflichten gegenüber der Öffentlichkeit erinnert, wollte Näheres wissen: Hatten BKA und Generalstaatsanwaltschaft etwa einzelne Medien vorab über den Einsatz informiert, die spektakuläre Grossrazzia vielleicht sogar besonders in Szene gesetzt?

Geheimnisverrat? Das wäre wohl strafbar

Verständlicherweise wollten sich beide Behörden zu dieser Frage nicht äussern. Doch die zuständigen Verwaltungsgerichte in Karlsruhe und Wiesbaden entschieden im Februar auf Eilantrag des «Tagesspiegels» gegen deren Willen: «Die Ermittlungen des Generalbundesanwalts sind Massnahmen im öffentlichen Interesse», teilte das Wiesbadener Gericht mit. «Dies umfasst auch die Frage, ob bei den Durchsuchungsmassnahmen anwesenden Medien Einzelheiten zu Ermittlungen vorab bekanntgegeben worden sind

Angesichts der Erregungswellen, welche die Reichsbürger-Razzia vor BKA und Bundesanwaltschaft räumten daraufhin schmallippig ein, es habe Tage vor der Aktion schriftliche und telefonische Anfragen von Journalisten gegeben, woraus man habe schliessen können, dass die polizeilichen Pläne in Medienkreisen vorzeitig bekannt gewesen seien. Die Bundesanwaltschaft habe darauf mit einem allgemeinen Hinweis reagiert, «dass eine verfrühte Berichterstattung den Ermittlungszweck gefährden würde».

Mit dieser Erklärung hatte man den recherchierenden Journalisten nun hochoffiziell bestätigt, dass etwas im Gange war. Die Formulierung beantwortet indes nicht die Frage, woher die Reporter ihre Kenntnisse hatten – und ob sie womöglich gezielt informiert wurden, damit die Razzien das gebührende Echo finden würden. Hätten Behördenmitarbeiter solche Informationen durchgestochen, dann wäre dies womöglich ein strafbarer Geheimnisverrat.

Zähe Ermittlungen

Weihnachten ausgelöst hatte, wirkt es merkwürdig, dass das mediale Interesse sehr bald nach dem Zugriff nahezu vollständig abflaute.

So gut wie manche Zeitungen und Sender offenbar rechtzeitig über die Aktion Bescheid wussten, hätte man erwarten können, dass danach kontinuierlich belastende Erkenntnisse aus den Ermittlungen an die Öffentlichkeit dringen würden – über paramilitärische Strukturen, Waffenlager oder konkrete Planungen, wie der grosse Umsturz hätte ins Werk gesetzt werden sollen.

Doch ausser den zunächst sichergestellten Waffen (die Mehrzahl davon stammte aus dem Besitz eines zugelassenen Waffenhändlers), ausser konspirativen «Verschwiegenheitserklärungen» und Massen von Chatprotokollen scheint bis dahin wenig belastendes Material aufgetaucht zu sein.

Ein hochrangiger Polizeivertreter räumt im Gespräch mit der NZZ ein, dass die «Auffunde» der Razzia im Dezember ein wenig «enttäuschend» gewesen seien. Mit dem Wissen von heute hätte man vielleicht einen «anderen Kräfteansatz» gewählt. Aber hinterher sei man ja immer schlauer.

Die Ministerin soll erst spät von der Razzia erfahren haben

Die zuständige Bundesinnenministerin Nancy Faeser von den Sozialdemokraten, so hört man es sowohl aus ihrem Umfeld als auch aus Polizeikreisen, sei über die Aktion erst am Vorabend des 7. Dezembers in Kenntnis gesetzt worden und darüber erheblich verärgert gewesen.

Das spräche, wenn es stimmt, gegen Unterstellungen, mit denen sich die Ministerin rasch konfrontiert sah. Danach habe sie persönlich ein hartes Vorgehen gegen die mutmasslichen Verschwörer angeregt, um sich im hessischen Landtagswahlkampf zu positionieren. Faeser tritt dort am 8. Oktober als Spitzenkandidatin ihrer Partei an; sie habe sich, so die Vorwürfe, früh als Law-and-Order-Politikerin in Szene setzen wollen.

Auch wenn die Initiative nicht von Faeser ausgegangen sein sollte, nutzte die Ministerin sogleich die Gelegenheit zur Profilierung. Sie sprach von einem «Abgrund terroristischer Bedrohung», der sich in Deutschland aufgetan habe. Und sie erklärte, das Beamtenrecht auf Bundesebene verschärfen zu wollen.

So sollen Staatsdiener – es waren auch Polizisten und Bundeswehrangehörige unter den Tatverdächtigen – künftig schon beim blossen Verdacht auf eine verfassungsfeindliche Gesinnung aus dem Amt entfernt werden können, und nicht erst nachdem ein Gericht die Schuld festgestellt hat. An dieser Beweislastumkehr will die Bundesregierung im Umgang mit Bundesbeamten festhalten; einen entsprechenden Gesetzentwurf hat sie im Februar vorgelegt.

Ein neuer Radikalenerlass?

Diese geplante Neuauflage des sogenannten Radikalenerlasses aus den siebziger Jahren stösst jetzt, wo es gegen eine politische Bedrohung von rechts aussen geht, auf erstaunlich wenig öffentliche Kritik. Und da es sich bei Reichsbürgern um unangenehme und im Einzelfall sehr gefährliche Zeitgenossen handelt, ist auch das öffentliche Interesse an ihren Haftbedingungen und der Dauer ihrer Untersuchungshaft im konkreten Fall gering.

Das war in den Zeiten, als RAF-Häftlinge wie Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim einsassen, ganz anders. Teile der deutschen Linken taten sich lange Zeit schwer mit einer vollständigen Distanzierung von den Linksterroristen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele schrieb noch 1998, der bundesdeutsche Rechtsstaat gehe bei der Bekämpfung seiner Feinde aus der RAF «über Bord».

Auch der Prozess gegen die tatverdächtigen Reichsbürger wird möglicherweise in Stuttgart-Stammheim stattfinden. Anders als die RAF-Anwälte dürfen die Verteidiger heute allerdings auf keinerlei politische Solidarität für ihre Mandanten hoffen – und sind dementsprechend scheu, Auskunft zu geben.

Eine ziemlich schwierige Klientel

Es handele sich um eine ziemlich schwierige Klientel, sagt ein Reichsbürger-Anwalt, der sich schliesslich doch auf ein Hintergrundgespräch in Berlin einlässt. Solche Leute sprächen auch ihren Rechtsbeiständen gerne jede Legitimation ab. Da sie die rechtliche Existenz der Bundesrepublik verneinten, könne es in ihrer Logik auch keine gültigen juristischen Staatsexamen geben. Verärgere man einen Reichsbürger, stelle der einem womöglich ein selbstverfasstes «Urteil» zu, was zwar für den Anwalt keinerlei rechtliche Folgen habe – sich aber trotzdem «nicht so gut» anfühle.

Aus Kreisen der Strafverteidiger ist zu hören, dass die verhafteten Terrorverdächtigen vor der Razzia zutiefst zerstritten gewesen seien. Einige hätten angeblich andere um Geld betrogen. Einzelne Beschuldigte hätten allen Ernstes behauptet, sich mit Ausserirdischen getroffen zu haben. Andere hätten darauf gewartet, dass eine internationale Geheimorganisation namens «Allianz» in Deutschland die Macht übernehme. Erst dann hätten sie Funktionen in einem neuen Staatsgebilde antreten wollen.

Und ja, am Telefon sei von einigen Beteiligten wohl tatsächlich über eine Besetzung des Reichstagsgebäudes in Berlin gesprochen worden – «allerdings eher im Stile besoffenen Stammtischgeredes». Morgens um neun Uhr vor Gericht höre sich so etwas dann natürlich nicht so gut an.

«Ganz normal sind diese Leute alle nicht», sagt der Anwalt beim Gespräch in Berlin, «aber nicht jeder, der bekloppt ist, ist ein Verbrecher

Beim Bundesgerichtshof klang das zuletzt dramatischer. Demnach soll es bereits «konkrete Vorbereitungshandlungen» für einen gewaltsamen Sturm auf den Bundestag gegeben haben, heisst es in einem Beschluss des Gerichts, der am Donnerstag in Karlsruhe veröffentlicht wurde. Ein Kommando von bis zu 16 Personen habe demnach Regierungsmitglieder und Abgeordnete in Handschellen abführen sollen.

Einer der in Untersuchungshaft sitzenden Beschuldigten habe nach dem Stand der Ermittlungen in Berlin bereits Örtlichkeiten ausgekundschaftet, Fotos gemacht und eine Namensliste von Politikern, Journalisten und anderen Personen des öffentlichen Lebens erstellt, heisst es weiter.

«Nur weil Leute irre sind, sind sie nicht ungefährlich»

Die Anwälte rechnen damit, dass in den kommenden Wochen auf der Grundlage solch «neuer Ermittlungsergebnisse» auch neue Haftbefehle gegen die Untersuchungshäftlinge ausgestellt werden. Auf diese Weise könne die Staatsanwaltschaft dann die vorgeschriebene Haftprüfung nach sechs Monaten vermeiden und ungestört bis in den Herbst weiterarbeiten.

Falls es sich bei dem Gros der Tatverdächtigen tatsächlich um relativ harmlose Spinner handeln sollte, dann müsste man die Frage nach der Verhältnismässigkeit einer derart langen Untersuchungshaft stellen. Ein hochrangiger deutscher Nachrichtendienstexperte räumt im Gespräch ein, dass es einen «blöden politischen Druck» gebe, mit aller Härte gegen «Rechte» vorzugehen, auch dann, wenn die Faktenlage dürftig sei.

«Das liegt aber auch daran», sagt er, «dass wir in manchen Situationen, zum Beispiel beim Nationalsozialistischen Untergrund und bei seinen Morden, auf dem rechten Auge blind waren.» Und: «Es gibt eine Form der Selbstradikalisierung in dieser Szene, die vielleicht mit Stammtischgerede beginnt. Aber am Ende zieht man los und erschiesst den Bürgermeister. Nur weil Leute irre sind, sind sie nicht ungefährlich.»

Wie viele Geheimdienstleute waren aktiv?

Es stellt sich allerdings eine weitere Frage: Haben die inhaftierten Reichsbürger ihren Irrsinn allein entwickelt – oder wurden sie angestachelt? Die Gruppe jedenfalls wurde monatelang beschattet, ihre Telefone wurden abgehört. Unbekannt ist, wie viele V-Leute des Verfassungsschutzes aktiv waren und sich an den «Umsturzplänen» aktiv beteiligten.

In der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei vom Februar ist von einer «Anzahl von potenziell vorliegenden Quellenmeldungen» die Rede. Diese könne aber nicht offengelegt werden, weil das «Rückschlüsse auf den Einsatz von V-Personen im Umfeld der Gruppierung» erlaube und «die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste zur Folge haben könnte, die das Staatswohl gefährden könnte».

Vor Jahren ist in Deutschland das Verbot einer rechtsextremistischen Partei gescheitert, weil zu viele V-Leute der Verfassungsschutzämter, zum Teil sogar als gewählte Funktionäre, in den Parteistrukturen sassen und den Kurs der Partei mitbeeinflussten. Diese Partei war die NPD.

(Quelle)

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